Wie lernen Kinder? Wie Emotionen helfen, Informationen und Erfahrungen zu verarbeiten

Familienleben
Kind forscht © Foto: GiulioBenzin, Depositphotos.com

Die Familienstützpunkte Bambergs bieten in den kommenden zwölf Monaten mit „Expedition ins Familienreich“ eine Vortragsreihe für Eltern aus Stadt und Landkreis Bamberg. Im Mittelpunkt stehen die unterschiedlichsten Herausforderungen und Unsicherheiten und wie Familien gut damit umgehen können.
Die Reihe startet mit einem Fachnachmittag für pädagogische Fachkräfte – Bambolino sprach  mit dem Referenten Rainer Schwing im Vorfeld über sein Thema „Liebe – Neugier – Spiel. Wie Kinder lernen und Probleme lösen“.

Bambolino: Wie lernen Kinder, die noch nicht zur Schule gehen? Wie entdecken sie Neues, wie verarbeiten und speichern sie neues Wissen, neue Informationen und Erfahrungen?

Rainer Schwing: Das ist natürlich eine große Frage, die ganze Lehrbücher füllt. Ich drücke das in den drei großen Schwerpunktthemen meines Vortrags aus: „Liebe – Neugier – Spiel“.
Ganz allgemein: Beim Lernen verhält sich das Gehirn wie ein Muskel bei körperlicher Betätigung und beim Krafttraining: Neue Verbindungen und Fasern wachsen, das Gehirn Gehirn speichert neu hinzugekommene Informationen und Erfahrungen durch neue Verbindungen der Nervenzellen. „Liebe – Neugier – Spiel“ bezieht sich auf die Voraussetzungen für das Lernen von Kindern und auch von Erwachsenen. In den USA haben Forscherinnen und Forscher die neurobiologischen und psychologischen Voraussetzungen für das Lernen untersucht. Dabei zeigte sich, dass Lernen untrennbar mit Gefühlen verknüpft ist. Kinder lernen schnell und viel, wenn sie sich sicher und geliebt fühlen, wenn sie ihrer Neugier folgen können und wenn sie spielen. Wenn diese Gefühle aktiviert sind, werden in unserem Gehirn bestimmte Stoffe vermehrt ausgeschüttet. Diese sorgen dafür, dass in unserem Gehirn das Erlebte schnell abgespeichert wird. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn wir dieses Wissen aktiv anwenden und nicht nur passiv pauken.

Wie können Kinder gefördert werden, um mit Freude und Interesse zu lernen, zu denken und sich Herausforderungen zu stellen?

Wir kommen alle mit dieser „Neugier“-Ausstattung in die Welt. In der Evolution, der Herausbildung der Lebewesen in der Erdgeschichte, war Neugier ein Überlebensvorteil, genauso wie Vorsicht und Furcht. Die neugierigen Tierchen haben schneller gute Nahrungsplätze gefunden, und auch Nist- und Schlafplätze entdeckt, und wer dabei etwas vorsichtig war, hütete sich vor Gefahren. Tiere mit diesen Ausrichtungen haben so besser überlebt und sie weitergegeben. Wann immer diese Gefühle aktiviert sind, schaltet das Gehirn in einen Lernmodus, denn diese Informationen sind dann wichtig.

Bei Furcht ist es ein wenig komplizierter: Wenn wir Angst haben, lernen wir auch schnell, aber wir lernen Dinge zu vermeiden (das ist z.B. bei Mathematik nicht ganz so förderlich, oder bei Sprachen…). Wenn wir uns also sicher und unterstützt fühlen, können wir uns auch schwierigen Aufgaben zuwenden.

Aber wenn wir mal bei Neugier bleiben, einem ganz zentralen emotionalen System, das allen Lebewesen zu eigen ist: Babys und Kleinkindern untersuchen mit großer Lust alles, was neu ist. Es kommt nun darauf an, wie die Erwachsenen diesen Lernhunger unterstützen, ihm Räume geben zur Entfaltung. Oder ob sie die Lernwege schon sehr früh in erwachsene Schubladen lenken wollen. Ein Beispiel: An diesem Wochenende waren wir mit den Enkelkindern auf dem Spielplatz, Zwillinge, ein Jahr alt. Sie erkundeten mit ganz großer Freude alle möglichen Tierfiguren, Mauern und Gänge, die es da so zu entdecken gab. Ein anderer Vater mit seinem Kind, etwa anderthalb Jahre alt, war auch damit beschäftigt. Er wollte aber offensichtlich der Tochter beibringen, dass das Huhn „gelb“ ist, für das sie sich interessierte; das wiederholte er sehr oft. Die Tochter interessierte sich aber herzlich wenig für die Farbe, sondern eher dafür, dass sie auf das Huhn hinauf- und wieder hinabklettern konnte und entdeckte lieber verschiedene Möglichkeiten des Herunterrutschens.

Es ist einfacher, effektiver und weniger anstrengend, wenn wir den Lernwegen der Kinder folgen; dass etwas gelb ist und etwas anderes blau ist, werden sie dann nebenbei lernen, denn sie hören uns zu und imitieren gerne.

Wird das Lernen und die Wissensentwicklung im späteren Alter schon in den ersten Lebensjahren entscheidend beeinflusst?

Ja, absolut: Ob ein Kind mit Freude lernt oder angstbetont auf Lernanforderungen reagiert, entscheidet sich schon in den ersten Lebensjahren. Das kann sich auch wieder ändern, je nachdem, wie ein Kind begleitet wird. Aber biologisch ist Lernen als eine lustvolle Angelegenheit angelegt: Wenn wir Neues entdecken, schüttet unser Gehirn sogenannte Endorphine aus, man könnte auch sagen: Wohlfühlstoffe. Wenn durch Erfahrungen Lernen mit Angst oder Herabsetzung gekoppelt wird, wird dieser natürliche Prozess überlagert und verstört. Wir kennen alle solche Erwachsenen Kommentare: „Sing besser nicht, Du kannst das eh nicht …“ „Du stellst Dich mal wieder dumm an, lass mich mal machen …“ „Wie oft soll ich Dir das denn noch sagen, hast Du Löcher im Gehirn …“
Das schafft eine Atmosphäre der Unsicherheit, es bildet keinen Selbstwert, und heraus kommen Selbstbilder, die Lernen blockieren:  „Ich bin unmusikalisch“, „Ich hab zwei linke Hände“ „Für Mathe bin ich zu dumm“.

Wie lernen Kinder, bevor sie in die Schule kommen, wo unterscheidet sich das Lernen eines drei- oder fünfjährigen Kindes vom zwölfjährigen Schüler mit Hausaufgaben?

Selbstverständlich gibt es da Unterschiede. Schulkinder sind kognitiv weiter entwickelt, sie verfügen über einen großen Erfahrungsschatz – der aber viele Lernblockaden enthalten kann. Ich möchte eher die Gemeinsamkeiten betonen: Auch ältere Kinder lernen dann am besten, wenn sie ermutigt werden, wenn ihre Neugier geweckt wird, wenn das Gelernte nah an ihrem Alltag liegt, wenn sie selber ihren Lernwegen folgen können.

Wie können Kinder auch in der Schulzeit Interesse und Motivation für Lernen und Arbeiten, gerade für abstraktere Matheaufgaben oder das Üben von Vokabeln aufbringen, wie können sie sich anregen, um länger oder intensiver zu lernen?

Je mehr das Lernen an Interessen der Kinder anknüpft und aktiv gestaltet werden kann, desto eher werden auch mühsame Lernwege akzeptiert. Ein Beispiel ist das Sprachenlernen: Wir können Vokabeln pauken, was wenig effektiv ist, oder wir können uns in Texte vertiefen, hören, sprechen. Warum haben viele Abiturienten Schwierigkeiten einen englischen Film zu verstehen? Der amerikanische Linguist Stephen D. Kresher hat dieses Phänomen in den achtziger Jahren schon erklärt und eine andere Methode des Sprachenlernen vorgeschlagen. Er nennt das die natürliche Methode, sie ist angelehnt an die Art und Weise, wie Kinder eine Sprache lernen. Sie lernen nicht die Grammatik und pauken Vokabeln und Regeln: „Ich gehe, du gehst, er geht“. Sie hören anderen zu und sprechen ihnen nach. Grammatische Strukturen lernen sie implizit. So schlägt Kresher vor, Sprachen durch Hören und Nachsprechen zu lernen; dabei sollten es Texte sein, die die Lernenden interessieren und sich dabei häufig in dem Bereich bewegen, in dem man etwa 50-60 Prozent des gesprochenen versteht und sich durch häufige Wiederholung den Rest erschließt.
Wenn Sie ein Beispiel dafür sehen wollen, gehen Sie einmal nach Schweden und reden Sie Englisch mit den Menschen. Fast alle sprechen ein sehr gutes Englisch. Schwedische Pädagogen haben mir das so erklärt, dass es fast keine synchronisierten englischen Filme gibt, sondern alle englischsprachigen Film im Original mit Untertiteln laufen. Auch keine schlechte Idee.
Eine andere Erinnerung aus meiner persönlichen Schulzeit kommt aus dem Musikunterricht. Nach vielen langweiligen Jahren mit theorielastigem Unterrichtsstoff bekamen wir einen jungen Musiklehrer. Seine erste Lehreinheit war der Vergleich von „Child in Time“ von Deep Purple mit Griegs „In der Halle des Bergkönigs“. Er zeigte uns die ähnliche musikalische Struktur und besprach mit uns, wie die ähnliche Wirkung beim Hörer erzielt wurde. Ich war damals erstaunt, wie viele sonst eher geistig abwesenden Schüler interessiert und begeistert mitmachten.

Aber wo ist die Grenze des individuellen Lernens, wann sollte Schluss sein am Tag, in der Woche – oder vielleicht auch innerhalb einer Schulform?

Das ist ein so wichtiger Punkt. Im Bemühen nach immer mehr Effizienz oder immer besseren Leistungen übertreiben es viele Eltern, Lehrerinnen und Schüler. Kinder brauchen auch Freiraum für eigene Interessen, zum Abhängen, für soziale Kontakte, zum Spielen; mehr bringt nicht immer mehr. Hier ist es wichtig, die Zeichen zu erkennen, die das Kind aussendet.

Es gibt, wie es unterschiedliche Kinder gibt, auch verschiedene Lerntypen – wie groß ist der Einfluss dieser individuellen Eigenheiten auf den jeweiligen Lernweg? Wie können Kinder ihren eigenen Lernrhythmus kennenlernen und entwickeln?

Es gibt sehr unterschiedliche Typen. Manche sind sehr handlungsorientiert, andere beobachten lieber und lernen dann über Imitation, andere lernen im späteren Alter über Bücher und abstraktes Herangehen. Das ist immer wieder eine Herausforderung in der Schule, diesen verschiedenen Typen auch gerecht zu werden – da ist didaktisches Geschick gefragt. Am schönsten ist es immer, wenn Gruppen-Aufgaben formuliert werden, in denen die unterschiedlichen Lerntypen jeweils gefragt sind und wichtige Beiträge liefern können.

Wie beeinflussen Eltern, Freunde und andere Bezugspersonen den Lerneifer von Kindern? Wo sind wir gefordert?

Wir alle beeinflussen die Lernhaltungen unserer Kinder und auch unsere eigenen. Es gibt interessante Ergebnisse aus der Netzwerkforschung, die zeigen, dass nicht nur Gefühle, sondern auch Haltungen und Einstellungen ansteckend sind. Wenn wir in einer sportlichen Umgebung leben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass wir selber Sport treiben. Genauso werden Kinder, die in einer lernfreudigen, interessierten Umgebung leben, sehr viel lieber und leichter lernen.
Ein ganz banaler Schritt wäre, dass wir uns als Erwachsene unseren Lerneifer erhalten. Wie schon erwähnt geht es darum, die Talente des Kindes zu entdecken und zu fördern und es in seiner Wesensart zu unterstützen. Es ist viel einfacher, Stärken zu verstärken als Schwächen auszugleichen. Wir sollten aus einer Sportskanone kein Mathematik-Genie machen. Es kann nicht genug betont werden: Wichtig ist, an den vorhandenen Ressourcen, Erfolgen und den individuellen Fähigkeiten anzusetzen, denn nichts motiviert mehr als das Gefühl des Erfolgs. Das gilt nicht nur für Kinder.

Was braucht es im Alltag eines Kindes bzw. einer Familie, um Ausgleich und Abwechslung zu Schule und Hausaufgaben zu schaffen?

Die Frage ist ganz einfach zu beantworten: Spiel, Spaß, Spannung. Soziale Kontakte, Menschen, die mir gut tun, die mich lieben. Ruhepausen zum Abhängen. Das sind übrigens genau die Faktoren, die uns gesund erhalten, sowohl psychisch als auch physisch. Diese Faktoren können Menschen bis zu zehn Jahre mehr gesunder Lebenserwartung schenken. Das zeigen hunderte von Studien zu Gesundheits- und Krankheits-Faktoren weltweit.
Spiel, Spaß, Spannung sollte auch viel mehr in die Schule Eingang halten. Das würde nicht nur die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler stärken, sondern auch die der Lehrerinnen und Lehrer. Interessante Studien aus den USA zeigen, dass Kinder deutlich bessere Leistungen bringen, nachdem sie lustige und alberne Spiele gespielt haben. Ich würde mir wünschen, dass diese Erkenntnis im Unterricht umgesetzt wird. Lernen ist keine bierernste Angelegenheit, Lernen kann Spaß machen, Freude bereiten, man kann dabei lachen und vergnügt sein.

mit Rainer Schwing sprach Arnd Rüttger

 

Weitere Infos zur Veranstaltungsreihe „Expedition ins Familienleben“ mit Terminen und Infos sind zu finden auf » dieser Homepage.

 

Rainer Schwing

Rainer Schwing, Ausbildungen in klientenzentrierter Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Paar- und Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung. Berufliche Erfahrungen in der Kindertherapie und der Familien- und Jugendberatung. Seit 1986 freiberuflich als Organisationsberater, Supervisor, Coach und Managementtrainer, Geschäftsführer des „praxis institut für systemische beratung süd“ in Hanau.    www.praxis-institut.de/sued de

Zurück zum Seitenanfang